Unterwegs ins eisige Abenteuer

Die MS Alexander von Humboldt cruist vor der Antarktis –
„Das weiße Ende der Erde, ein unvergessliches Erlebnis!“ meint der
Hamburger Autor, der an Bord war. ?

Wolf-Ulrich Cropp

Kaum hat die Alex den Bug aus dem Beagle-Kanal gestreckt, wurden wir von antarktischen Stürmen gepackt und gebeutelt. Wir, das sind 270 Kreuzfahrer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, beseelt von einem Lebenstraum: einmal die Antarktis hin und zurück. Einmal ewiges Eis unter den Stiefeln spüren, sich wie ein Entdecker fühlen. Der sechste Kontinent hält es wach, das Gefühl vom großen, weißen Abenteuer.
Backbord querab steht der schruntige Kap Hoorn-Felsen wie ein Bollwerk zwischen Atlantik und Pazifik. Davor befindet sich der Schiffsfriedhof mit dem Massengrab von 10 000 Seemännern. Doch wir sind in besten Händen: Kapitän Oliver Krüß, mit 67 Antarktisfahrten ein Südpolarfuchs und Kreuzfahrtdirektor Winfried Prinz ist, seit der Havarie der Maxim Gorki: Held von Spitzbergen.
Noch stampfen wir durch hohe See, begleitet von Walen und Delphinen, umsegelt von Wanderalbatrossen... Ein mächtiger Brecher, lässt die Alex stöhnen und erschüttern. „Rasmus zerrt ja mächtig an unserer Backnummer!“ meint Frank Beck aus Frankfurt und packt die Reling. Vor uns liegen 1000 Seemeilen offener Ozean und der 6. Erdteil. Hinter uns Ushuaia, die südlichste Stadt der Welt. Erst vor einem knappen Jahr schleuderte im Hafen dort, die charmante Susanne Prinz eine Flasche Jacquet Champagner an die Bordwand. Damit taufte sie die einstige Explorer II auf den Namen Alexander von Humboldt, die nun das zweite Mal für PHÖNIX ins ewige Eis läuft. Das Expeditionsschiff hat 12 500 BRT und Eisklasse 1B.
„Backbord voraus - der erste Eisberg!“ erschallt die Stimme Käpten Krüßs von der Brücke. Das Schiffsvolk stürmt auf Promenaden- und Sonnendeck. Tatsächlich, in unmittelbarer Nähe gleitet ein Kaventsmann aus Eis vorbei. Bedrohlich und doch erhaben und schön, in den Farben weiß, blau, grün im tintenblauen Meer. Ohs und Ahs des Verzückens sind zu hören. „Und wenn man bedenkt, dass da nur ein Viertel aus dem Wasser guckt, kann mir richtig Angst werden!“ sagt Frau Maier.
„Blas an Steuerbord!“ heißt es jetzt. „Wer bläst wo?“ ruft Frau Maier und kriegt in der Aufregung rechts und links durcheinander.“ „Drüben – ein Buckelwal“, erklärt Polarökologe Michael Schmid. Unverhofft bricht der Ozean auf und mit gewaltiger Kraft katapultieren sich 40 Tonnen in die Luft... wie ein untergehendes Schiff versinkt der Wal wieder, nicht ohne zum Abschluss seine Schwanzflosse aufzustellen, gravitätisch, einem mächtigen Segel gleich.
Zwei Tage später reißt uns um 6 Uhr die markige Stimme des Expeditionsleiters Klemens Pütz aus den Kojen: „Laaand – in – Sicht!“ Wir stoßen direkt in die Paradies-Bucht am Wespenstachel der Antarktis.
Nun folgen Verhaltensregeln für Zodiac-Fahrten und Landgänge. In der Südpolarregion herrschen strenge Natur- und Umweltschutz-Regeln: Unterdessen umsurren die robusten Schlauchboote die Alex wie aufgebrachte Insekten. Am Bug führen sie Namen wie Captain Memo, Rio Amazonas, Father Jack. Am Heck hängen starke Jamaha-Außenborder, stehend gesteuert von erprobten Bootsfahrern aus Amerika. Den Piloten mit den langen, blonden Haaren auf der Rio Amazonas nenne ich Iron Man. Er braust barhäuptig durch die Kälte, während wir uns mit langen Unter- und Gummihosen, Pullovern, gefütterte Parkas, Gummistiefeln, Schwimmwesten, Wollmützen, Kapuzen und Handschuhen landfein machen.
Wir steigen die Gangway hinab, zu den wild tanzenden Schlauchbooten. Zehn Personen pro Zodiac. Der Motor heult auf. Iron Man donnert durch Dünung und wilde Wellen dem Ufer zu. Gischt spritzt. Wind schmirgelt die Haut wie eine Feile. Der Morgen ist klar und sonnig. Doch die Kälte lässt Gesichtszüge und Tränen frieren. „Wer hier ins Wasser fällt, ist in vier Minuten mausetot. Also festhalten und im Boot keine Experimente!“ mahnt der Amerikaner.
Wir haben Glück. Es wird eine trockene Landung, die erste und letzte trockene! Am Ufer empfängt uns eine Abordnung Eselspinguine. Umkreist werden wir von Sturmvögeln und Sturmtauchern. Rechts befindet sich die verwaiste Forschungsstation „Almirante Brown“. Ein Arzt hatte sie 1984 im Polarkoller mit Benzin übergossen und angesteckt.
Quelle Odeur! Beißender Pinguinenkot dringt in die Nase. Kot entweicht den Vogeldärmen in grandiosen Bögen. Watschelnde „Oberkellner“ wollen queren. Sie wissen, dass sie Vorfahrt haben. Bisweilen verharren sie provozierend, als wollen sie sagen: „Eindringling, willst du wohl warten!“ Behände hüpfen die Vögel Eisflanken empor, jede Alpengemse wäre ob ihrer Kletterkünste neidisch. Keuchend folgen wir einem vereisten, steilen Pfad. Oben genießen wir das wahrhaft paradiesische Panorama: das Schiff hinter glitzernden Schollen, Gletschereis, das farbenprächtig in die Bucht leckt. Kolonien von Robben, Pinguinen, Seevögeln, eingebettet in dieses Eden aus Urnatur. „Das ich das noch erleben darf!“ entfährt es dem rüstigen 75 jährigen Hermann Schröder aus Dresden.
Vulkanologe Dr. Veit bringt sich am Rande des Felsens in Position und erklärt: „Die Antarktis besteht aus 14 Millionen km2 Gesteinsmasse und ist damit deutlich größer als Europa. Im Winter wächst die Fläche mit dem Eis um das Doppelte, bei bis zu minus 89° C! Die Antarktis ist die kälteste, trockenste und windigste Region unseres Planeten. Auf der Westseite ist sie von teils aktiven Vulkanen durchzogen und im Innern lagern Öl, Kohle...“ „Vulkane, Öl? – Mei, da legst di nieder!“ raunzt Franz Hubert aus München. „Vor etwa 180 Millionen Jahren lösten sich Landmassen vom südlichen Urkontinent Gondwana. Eine davon schob sich allmählich in diese Position – die Antarktis. Einst beherbergte sie eine üppige Flora und Fauna,“ sagt Veit. Ob der Kontinent ein Refugium bleibt? Ich habe so meine Zweifel. Amerika baut bereits eine 1 600 km lange Straße quer durch, an ihre Polstation. Noch in diesem Jahr soll die Eisautobahn fertig sein! Auftakt gewaltiger Veränderungen?
Ich entferne mich von der Gruppe, lasse das Panorama wirken. So spüre ich den Atem der Natur, die spröde, eisige Schönheit. Die Rundschau gewährt Einblick in eine neue Farbenwelt: Eis funkelt nicht nur weiß, es leuchtet blau, rabenschwarz, giftgrün, purpurfarben. Im Licht der Sonne gleicht gefrorenes Wasser einer Märchenwelt. In der Antarktis kommt sich der Besucher wie ein privilegierter Fremder vor, so, als betrete er sakrales Terrain...
Unten warten Zodiacs für eine Rundfahrt im Treibeis. Im Eiswasser tummeln sich Robben, Pinguine; ein Seeleopard will mit uns spielen. Quallen von reinster Transparenz pumpen durchs Wasser. Immer wieder Pinguine, die Lieblinge der Antarktis. Wie Torpedos schießen sie von der Eiskante. In ihrem nassen Element schlagen sie ausgelassen Kapriolen.
„Da bläst ein Zwergwal, 11 Meter lang, 10 Tonnen schwer!“ ruft Iron Man. Alles wirbelt herum. „Wo?“ – „Da, da, er stemmt sich heraus!“ „Mein Gott ist das aufregend!“ jammert Ilse Krause. Fast wäre ihr die Kamera ins Wasser gefallen.
„Wenn dir das Wetter nicht gefällt, warte fünf Minuten!“ brummt der Zodiacfahrer und schaut den Sturmtauchern nach, das sind Schlechtwetterboten.
Augenblicklich schlägt das Wetter um. Wir suchen eine Rinne im Eis und schieben uns vorsichtig dem offenen Meer, unserer Alex zu. Als wir die Gangway erklimmen, wirbelt Schnee aus dunkelgrauem Himmel. Kapitän Krüß will es dennoch wagen und sein Schiff durch den Lemaire-Kanal steuern. Das Lavieren durch die enge Schlucht bei diesem Wetter, bei diesem Eisgang ist hohe Seemannskunst! Binnen kurzer Zeit können Eisberge die Weiterfahrt blockieren. Das Schiff vermag wegen der Enge und der Strömung nicht zu drehen. Im Schritttempo gleitet der Rumpf an Schollen vorbei... einer weißen Barriere zu. Na, hoffentlich geht das gut!
„’John Titts’ heißen die Zuckerhüte,“ erklärt Wilfried Prinz, „nach dem enormen Vorbau der Sekretärin des Gouverneurs der Falkland-Inseln, John Middleton.“ Tiefer und tiefer eingedrungen, suchen wir einen Spalt zwischen himmelstürmenden Wänden. Der Eisberg, der die Passage abriegelte, treibt nach Backbord, wir schlüpfen hindurch. Und bestaunen die Eismassen über uns... Geschafft! Gratulation an den Käpt’n für exzellentes Navigieren. Jetzt geht es mit Volldampf bis in die Caldera von Deception Island, der wohl größten Kraterinsel der Erde. Der Vulkan zerbarst vor 6 000 Jahren und hinterließ einen 300 Meter tiefen Kratersee mit 25 km Durchmesser. Befahrbar ist dieser durch einen engen Einschnitt, der „Neptuns Blasebalg“ genannt wird. Am Calderaufer erinnern Ruinen, Tanks, Maschinenteile an die verwaiste, norwegische Walfangstation von 1906.
Feuer und Eis gibt’s immer noch in der Antarktis. Wer es nicht glaubt, kann sich in der Fumarole Bay in heißen Quellen suhlen. Deception ist ein aktiver Vulkan.
Am Nachmittag versetzen wir vor die Halbmond-Insel und wagen eine Landung in wütenden Brandungswogen. Eine Welle schwappt meine Gummistiefel voll eisiges Wasser. Helga reißt ein Brecher um, sie wird zum Schiff zurückgebracht. Ich lege mich in den Schnee und lasse das Wasser aus den Stiefeln laufen.
Nach einem knappen Kilometer erreichen wir die roten Häuser der argentinischen Wetterstation. Endlich Wärme! und freundliche Menschen, die Kaffee und Schokolade für durchgefrorene Kreuzfahrer bereithalten.
Auf dem Rückweg schlagen wir einen Bogen um Robben und Seeleoparden. Die Burschen sind behände, bisweilen schnappen sie aufs Geradewohl zu. Ihr Biss ist gefährlich, wenn nicht gar tödlich. Wegen ihrer bakterienverseuchten Zähne sind Wissenschaftler, ja auch Touristen an Bisswunden gestorben.
Tags drauf liegen wir in der Maxwell-Bucht vor King Georg Island auf Reede. Die Insel ist mit 12 Forschungsstationen so etwas wie das wissenschaftliche Zentrum der Antarktis. Es ist mit –5° C bei 8 Beaufort, das heißt bei gefühlten -25°, saukalt. Schnee peitscht waagerecht ins Gesicht. „Kruzifix is ma schlecht!“ stöhnt Iris beim Ausbooten. Sie musste harte Wellenschläge einstecken. In der Uferbrandung fange ich mir wieder Stiefel voller Wasser ein. Zum Teufel auch mit den nassen Landungen! Jubany heißt diese argentinische Station, die mit dem deutschen Dallmann-Labor zusammenarbeitet. Wir machen einen Rundgang, bestaunen seltene grüne Moose und rote Flechten, werfen einen Blick in „Tomaten“, rote, stählerne Iglus, klettern über ein Walskelett... Es faucht so ungestüm, dass es trotz arktischer Kleidung kaum auszuhalten ist. „Katabatische Stürme“ heißen die eisigen Fallwinde, die von Gletschern herangetragen werden.
Elefanten-Insel: Bei solchem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür! Wir aber wollen wissen, wo Ernest Shackleton seine Leute verließ, um Hilfe zu holen: „Point Wild“, auf Elephant Island. Ein Betonsockel mit der Büste Kapitän Luis Prados, vom Eis verkrustet, von Zügelpinguinen umlagert, zeugt stellvertretend von übermenschlichen Strapazen, die auf sich genommen werden, Männer dem sicheren Tod zu entreißen. Wir fahren mit den Zodiacs an die Felsenhöhlen, in denen kauernd mörderischen Temperaturen getrotzt wurde. Bis die Rettung kam.
Iron Man braust mit uns an die Gletscherkante im Kessel und drosselt den Motor. Andächtig blicken wir an den Eismassen empor. Plötzlich grollt es unglaublich hohl, wie aus dem Bauch der Erde. Schließlich ein Donnern. „Er kalbt!“ raunen wir ergriffen. Iron Man brüllt: „Festhalten!“ und gibt Vollgas, das Schlauchboot vollführt einen Satz und flüchtet vor einer Monsterwelle. Die löste ein Eisblock aus, groß wie ein Wohnhaus. Der Block brach von der bizarren Stirn des Gletschers ab und rutsche an der Flanke vorbei, schlug aufs Wasser - hart und mächtig. Über die Wucht der Flutwelle ist selbst der erfahrene Bootsführer erstaunt, war aber auf die Gefahr vorbereitet. Im 90° Winkel reiten wir die Wassermassen ab. Eine unheimliche Kraft schiebt uns aus der Bucht.
Der 6. Erdteil verabschiedet sich mit einem eindrucksvollen Tafeleisberg: 50 m hoch, 1,4 km lang. Breite? Nicht auszumachen. Vielleicht 1 000 m? Wir schieben uns im Schneedunst an ihm vorbei.
Nachts: Der Atlantik kocht mit unheimlicher Intensität. Ich kann nicht schlafen. An Deck bin ich allein mit dem Schiff und dem Ozean. Leuchtet der Himmel? Aurora australis? Über mir das Südlicht? Oder flimmert da ein anderes Phänomen?... Bald werden wir die Falkland-Insel anlaufen, dann Buenoa Aires und Rio de Janeiro.
In dieser Nacht kommt mir Sir Edmund Hillary, den Bezwinger von Mt. Everest und Südpol in den Sinn: „In der Antarktis gibt es noch viele Herausforderungen, sie ist die große Wildnis der Erde – vielleicht auch das letzte Abenteuer!“ - Ja, so ist es. Und ich bin dankbar, ein wenig von diesem Abenteuer gespürt zu haben.

       
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